Der voreingestellte Modus ist, dieses Programm nicht ohne größere Not abzubrechen und auf keinen Fall aufgrund einer subjektiven „Laune“ den Kurs radikal zu ändern: weder den Beruf aufgeben, noch den Partner verlassen. Der Lebenslauf ist in diesen Milieus eng an die Werte „Solidarität“ und „wechselseitige Verantwortung“ geknüpft. Das bedeutet reziprok auch die normative Erwartung einer analogen Verantwortung und Solidarität a) seitens des Partners und b) durch den Arbeitgeber. Daher erklären sich Unverständnis und moralische Empörung: privat, wenn es zu Trennung oder gar Scheidung kommt; beruflich, wenn man trotz langjähriger Betriebszugehörigkeit entlassen wird; ebenso, wenn Arbeitgeber die von ihnen ausgebildeten Lehrlinge nicht übernehmen. Unternehmen schreibt man im Horizont des Lebenslaufs eine soziale Verantwortung und die Norm zur Solidarität mit Mitarbeitern zu. In familiärer Hinsicht dominiert das traditionelle Haupternährermodell mit dem Mann in der Verantwortung für das Familieneinkommen und der Frau in der Rolle der Hauptzuständigen für die alltägliche Versorgung sowie die Erziehung der Kinder, für den Haushalt, die nachbarschaftlichen und verwandtschaftlichen Beziehungen sowie mit der Option der Hinzuverdienerin durch Minijob oder Teilzeitbeschäftigung.
Brüche und Perforationen im Lebenslauf sind nicht vorgesehen, gelten als Unfall, Unglück, Devianz. Wenn man nun selbst die Partnerin/den Partner verlässt; oder den Arbeitsplatz kündigt, ist der internalisierte, in der sozialen Nahwelt bestehende Druck zur Begründung und Rechtfertigung groß.
Dass biographische Brüche heute nicht mehr individuell verschuldete Unfälle sind, sondern eine Erfahrung für Viele ist, erfahren „Traditionelle“ und „Konservative“ durch eigene Betroffenheit, durch ihre Kinder, durch Nachbarn und Bekannte sowie durch mediale Berichterstattungen: Die hohen Scheidungsraten lassen sich dauerhaft und hinreichend nicht mit dem moralischen Verfall der Gesellschaft erklären. Gleichwohl bedauert man, dass der Wert „Treue“ für viele Paare nicht mehr dieselbe Bedeutung hat wie noch vor einigen Jahrzehnten („Die laufen bei der kleinsten Schwierigkeit gleich auseinander“). Vor allem die jüngere Generation der Traditionellen distanziert sich aber vom moralisierenden Reflex ihrer eigenen (Groß)Elterngeneration und denkt zunehmend in Kategorien des Mitleids für die Betroffenen.
Und als in Folge der globalen Finanz- und Wirtschaftskrise 2008/2009 ein großer Teil der Vollzeit erwerbstätigen Männer auch aus dem Milieu der „Traditionellen“ arbeitslos wurden, in Kurzarbeit gehen mussten oder im Vorruhestand eine Lösung sahen, waren es oft die Frauen, die unfreiwillig zu Mitverdienerinnen oder gar Familienernährerinnen wurden (wenn auch auf geringem Einkommensniveau).
An solchen biographischen Devianzen zerbrechen Menschen aus traditionellen Milieus nicht, denn sie verfügen über kulturelle Ressourcen, sich an faktische Verhältnisse anzupassen und Schicksalsschläge (still oder im vertrauten Umfeld klagend) zu akzeptieren und zu ertragen. Aber als „Brüche“ werden solche Devianzen im Lebenslauf weiter wahrgenommen, und nur allmählich, doch unaufhaltsam und nachhaltig rückt die Perspektive mehr und mehr in das Zentrum des Weltbildes, dass Lebensverläufe nicht mehr voraussehbar und geradlinig sind.
Werteabschnitt B: Selbstverwirklichung
Im Werteabschnitt B (Selbstverwirklichung) positionierte Milieus – vor allem: „Etablierte“, „Postmaterielle“ „Bürgerliche Mitte“, „Benachteiligte“ – sind sehr viel stärker von den Chancen und Emanzipationsverheißungen der Individualisierung geprägt. Sie beanspruchen, dass Lebensverläufe nicht nur wählbar sind, sondern vom Einzelnen „unterwegs“ verändert werden können, ohne dass darauf soziale Sanktionen folgen oder der/die Einzelne unter Rechtfertigungsdruck stünde. Insbesondere in den höher gelagerten Milieu sind individuelle Zäsuren legitim, sind Ausdruck von Autonomie und Lebendigkeit.
Die voreingestellte normative Lebensverlaufsperspektive ist: Man kann sich im Leben mehrmals – in verschiedenen Lebensphasen – entscheiden, welche beruflichen und welche privaten Wege man einschlägt. Im normalen Lebenslauf will man für sich die Option haben, nicht nur den Arbeitgeber einmal oder mehrmals zu wechseln, sondern möglicherweise beruflich den Kurs zu ändern, etwas ganz anderes anzufangen, dem Leben eine Wendung geben. Das ist häufig ausgelöst und motiviert von der Sorge, nicht richtig oder nicht ganz gelebt zu haben, etwas verpasst zu haben, die eigenen Talente nicht ausgeschöpft oder überhaupt vollständig sondiert zu haben oder die eigenen früheren Träume (zu) lange zurückgestellt zu haben. Dahinter steht ein individueller und emphatischer Anspruch an „das eigene Leben“. Der Legitimationsdruck und Anspruch im Fall privater oder beruflicher Wendungen und Brüche ist deutlich geringer als in den Milieus der „Konservativen“ und „Traditionellen“. Die Widrigkeit des Schicksals muss nicht mehr als Argument herangezogen werden, sondern es gilt die individuelle Entscheidung. Anders als private Brüche bedürfen berufliche Veränderungen nicht mehr einer Rechtfertigung: Beruflich gilt bruchlose Kontinuität als Makel. Gerade wer dreißig Jahre stets beim selben Arbeitgeber war und sich beruflich nie verändert hat, macht sich der Anspruchslosigkeit oder Bequemlichkeit verdächtig. Zugleich sehen Menschen in diesen Milieus sehr genau die Risiken von radikalen Abbrüchen und Neuanfängen – und scheuen diese mit Rücksicht auf die finanzielle Absicherung und soziale Einbindung ihrer Familie.
Diese Milieus haben zugleich eigene Vorstellungen vom Leben im Alter. In der Phase nach der Erwerbstätigkeit beginnt für sie ein neues Leben, das sie anders gestalten wollen als ihre eigenen Eltern (meist aus den Milieus der „Traditionellen“ und „Konservativen“).