Theorien und Konzept

Das DELTA-Milieumodell integriert Theorien und Paradigmen der Soziologie, Psychologie, Semiotik, Kunstästhetik und Ökonomie. Damit ist das DELTA-Milieumodell theoriegeleitet und theorieoffen. Diese theoretische und empirische Multireferenzialität ist erkenntnistheoretisch instruktiv, weil sie vielfältige Perspektiven auf den Gegenstand Gesellschaft eröffnet, und weil damit nicht nur "blinde Flecken", die jede Theorie hat, sichtbar werden, sondern insgesamt eine dichte und ganzheitliche Beschreibung entsteht.

Für das DELTA-Milieumodell haben besondere Relevanz: 1.) Phänomenologie und Ethnomethodologie (Husserl, Schütz, Luckmann, Garfinkel); 2.) Lebensstil-Analysen (Simmel, Weber, Lüdtke, Müller); 3.) Wertorientierung und Wertewandel (Inglehart, Klages); 4.) Subkultur und neuere Klassentheorien (Bourdieu, Vester); 5.) Semiologie (Barthes, Eco, Hawkes); 6.) neuere Systemtheorie (insb. Luhmann).

In der Milieutheorie gibt es drei Dimensionen, die für ein Milieu konstitutiv sind und von denen keines vernachlässigt oder durch ein anderes substituiert werden kann:

  • Werte (subjektive Einstellungen: Kognitionen, Orientierungen, Interessen, ästhetische Urteile und Präferenzen);
  • Lebensstil (Verhalten und Handeln; Gewohnheiten, Routinen, Rituale);
  • Soziale Lage (objektive materielle und sozialräumliche Lage: Einkommen, Bildung, Beruf, Wohn-/Arbeitsumfeld).

Grundlage ist die Annahme, dass die soziale Lage auch in fortgeschrittenen modernen oder „postmodernen“ Gesellschaften eine wesentliche Voraussetzung und Einflussgröße für Orientierungen und Verhalten von Frauen und Männern ist. In der soziologischen Schichtungstheorie und -forschung werden drei Kerndimensionen der sozialen Schichtung bestimmt: Bildung, Haushaltsnettoeinkommen (Äquivalenz¬einkommen, das die Zahl der Haushaltsmitglieder mit berücksichtigt) und berufliche Position. Der Vorteil des Milieumodells im Unterschied zum Schichtungsmodell ist, empirisch zu belegen, dass …

  • innerhalb einer Schicht verschiedene Milieus existieren mit einem breiten Spektrum von verschiedenen Orientierungen und Verhaltensweisen. Das ist relevant für die thematische und mediale Erreichbarkeit der Menschen in der politischen, ökonomischen, rechtlichen, pädagogischen, religiösen u.a. Kommunikation.
  • soziale Milieus teilweise schichtenübergreifend sind. Das beruht auf dem Kernbefund der Individualisierungstheorie von der sozialen Aufstiegs- und Abstiegsmobilität. Diese ist – abgesehen von biographischen Einbrüchen – aber keineswegs grenzenlos (das würde die Schichtungsdimension nivellieren), sondern bewegt sich innerhalb eines Korridors. Das hat zur Konsequenz, dass Milieus im Raum eine klare Lagerung haben, aber teilweise in über- und untergeordnete Schichten hineinreichen (sich aber nicht von der Oberschicht bis zur Unterschicht erstrecken). Dies ist ein empirischer Befund und gilt als ein wesentlicher Grund dafür, dass wir nicht (mehr) in einer hermetischen Klassengesellschaft leben, sondern dass soziale Milieus Ausdruck einer perforierten Klassenstruktur sind (vgl. Bourdieu, Vester, Hradil).

Mit dem Milieumodell werden einerseits Formen der Abgrenzung und Distinktion der Milieus präziser erfasst (a) innerhalb einer Schicht sowie (b) der höher gelagerten Schichten gegenüber darunter gelagerten Schichten. Andererseits haben einzelne gehobene Milieus eine Leitbildfunktion für bestimmte darunter gelagerte Milieus, so dass Prozesse der Adaption und Imitation von Einstellungen und Verhaltensmustern identifiziert und daraufhin Programme und Maßnahmen initiiert und gesteuert werden können (z.B.: Avantgarde, Multiplikatoren, Late Adopters; Widerstandsmilieus u.a.).

Reale Unschärfe und Übergangsbereiche

Milieus sind keine "Klassifikation". Menschen werden Milieus nicht eindeutig wie zu Klassen ("Schubladen") zugeordnet; das Milieumodell verpasst Individuen keine soziokulturelle Uniform oder Zwangsjacke. Für Menschen typisch ist ja gerade die Gleichzeitigkeit einer Vielzahl von Werten, die in einer spezifischen Hierarchie und Beziehungsgefüge stehen. Insofern entsteht oft der (richtige) Eindruck, dass man selbst Anklänge aus verschiedenen Milieus hat. Das zeigt sich u.a. darin, dass wir Individuen einem Milieu primär zuordnen, darüber hinaus aber auch Übergangswahrscheinlichkeiten berechnen. Betont wird von uns daher das Phänomen der realen Unschärfe: Aus der Perspektive der Ethnomethodologie sind die Grenzen zwischen den Milieus fließend. Es liegt in der Natur der sozialen Wirklichkeit, dass soziokulturelle Orientierungen nicht so (scheinbar) exakt abgrenzbar sind wie soziodemographische Einzelmerkmale (Alter, Bildung, Einkommen). Nicht das Messinstrument ist unscharf, sondern die Wirklichkeit selbst. Das ist ein grundlegender Bestandteil des Milieukonzepts: Zwischen den verschiedenen Milieus gibt es Berührungspunkte und Übergänge. Diese sind grafisch angedeutet und signalisieren unscharfe Grenzen und Überlappungen durch gemeinsam geteilte Werte und ähnliche Lebensstilambitionen. In der praktischen Anwendung erlaubt dies, benachbarte Milieus zu einem Segment zusammenzufassen. So illustrativ das Milieumodell ist, haben graphische Darstellungen auch Grenzen, denn natürlich gibt es inhaltliche Überschneidungen auch zwischen graphisch "weit voneinander entfernt positionierten Milieus – nur sind diese eben geringer und oft spezifischer Art.

Soziokulturelle Eigenlogiken und Gravitationszentren

Die Betonung des Spektrums innerhalb eines Milieus sowie der der realen Unschärfe und der Übergänge zwischen den Milieus darf nicht darüber täuschen, dass es Lebenswelten mit eigener "Soziologik" sind. Milieus unterscheiden sich nicht einfach im stetigen, quantitativ auf einer metrischen Skala messbaren Mehr oder Weniger einzelner Werte, Motive, Ziele, Stile. Man kann mit quantitativen Methoden die einzelnen Dimensionen zwar messen und miteinander vergleichen, doch entgeht dabei die eigentliche Konstitution und Identität eines Milieus, sowie die Differenz zu anderen Milieus: Solches erschließt sich nur in qualitativen Lebensweltexplorationen. Dabei zeigt sich, dass die konstitutiven Elemente einer Lebenswelt a) eine milieuspezifische Bedeutung haben: anderes semantisches Umfeld, spezifischer Verweisungszusammenhang; b) diese individuell miteinander in spezifischer Weise vernetzt und somit komplex sind. Man kann durch ein mechanistisches "Mehr" auf einer oder mehreren Dimensionen nicht zu einem anderen Milieu kommen, weil die Strukturaufstellung eines Milieus entscheidend anders, in der ganzheitlichen Betrachtung nahezu inkommensurabel ist. Es ist daher wichtig zu verstehen, dass jedes Milieu anders "tickt", einen anderen "Rhythmus hat" oder auch für andere – je nach eigener Milieuprovenienz – sich „anders anfühlt". Daher sind auch expressive Artikulationen eines Milieus keine nichtigen und belanglosen Äußerlichkeiten, sondern verweisen auf den Kern. Jedes Milieu hat seine eigene milieutypische Perspektive und Soziologik, die in Wertorientierungen, Lebensstilen, der sozialen Lage sowie zum Teil auch in der Generationenlage ihre Anker hat.

Im Folgenden sind die Milieus weiter und tiefergehend charakterisiert in Bezug auf ihren Kern, ihren „archimedischen Punkt“ bzw. das „Scharnier“ ihres Selbst- und Weltbezugs: Auf den Begriff gebracht ist hier zum einen der milieutypische Impuls (Art und Richtung ihres Sehens) sowie Topos („Horizont, Gegenstand“) ihrer spezifischen Sensibilität, Wahrnehmung und Deutung (die Farbe ihrer „Brille“).